Wer wor der Kiendler?
Franz Wechselberger erzählt
Heit mecht i enk vom bekanntesten Tiroler Bauerndoktor, dem „Kiendler“ erzählen. Er wurde 1861 im Oberland geboren und hieß mit bürgerlichem Namen Alois Neuner.
Nach der Volksschule beschloss der junge Neuner, die Behandlung und Heilung von kranken Tieren zu erlernen. So wurde er Lehrling und Gehilfe beim Garberwirt. Dieser war nicht nur Gastwirt, sondern auch ein bekannter Nottierarzt und Bauerndoktor in Hippach.
Zu dieser Zeit gab es noch keine studierten Tierärzte, doch immer wieder erlebte man Menschen mit einer besonderen, natürlichen Begabung für die Naturheilkunde. Beim Garber erlernte der junge Lois aus dem Oberland die verschiedenen Kräuter, Heilpflanzen und deren Anwendung kennen. Diese fielen bei ihm auf fruchtbaren Boden; er zeichnete sich aus durch sein medizinisches Talent. So konnte es nicht ausbleiben, dass aus dem Anfänger ein wahrer Meister wurde, der oft zu krankem Vieh gerufen wurde – vorerst blieb es bei krankem Vieh.
Als er die Erbin eines Bauernhofes, Maria Rieser vom Kiendlerhof, heiratete, übersiedelte er nach Schwendau, und von da an war er „der Kiendler“. Es konnte nicht ausbleiben, dass neben seiner Arbeit als Tierdoktor manchmal ein Bauer oder eine Bäuerin fragte, ob er nicht bei ihren Leiden helfen könnte; und er konnte – und das immer öfter.
Schon nach kurzer Zeit hatte sich der Lois ein unwahrscheinlich großes Wissen über die Krankheiten der Tiere und Menschen angeeignet, sodass die Zillertaler dazu übergingen, ihn für ihre Leiden zu konsultieren. Eine seiner ersten Patientinnen war eine Bäuerin, die an Schweinerotlauf erkrankt war. Dieser riet der Kindler, Umschläge mit ungesalzenem Schweineschmalz zu machen und mischte ihr denselben Tee aus Kräutern, den er sonst bei Schweinen anwandte, die an der gleichen Krankheit erkrankt waren. Es war ein Versuch, aber, was maßgebend war, die Bäuerin wurde überraschend schnell gesund.
Zwar gab es damals schon drei studierte Ärzte im Zillertal, aber die konnten sich die Klein- und Bergbauern nicht leisten – das Geld war sehr knapp. Den Kindler konnte man in Naturalien bezahlen. So kamen immer mehr Heilungssuchende auf den Hof des Kindlers. Sein Ruf als Bauerndoktor wurde immer bedeutender und weit über die Talgrenzen hinaus bekannt.
Als ihm dann noch ein Onkel seiner Frau, der über eine große Sammlung Heilkräuter und Heilrezepte vergangener Zeiten verfügte, eben diese vermachte, waren die Weichen auf Menschen-Behandlung gestellt. Die Heilmethoden blieben im Wesentlichen die gleichen: Aus Kräutern, Heilstoffen und Mineralien bereitete er seine Medizin, und bald wusste man, dass er ein angeborenes Gespür für Krankheiten und deren Ursachen hatte. Er erkannte auch, dass viele Krankheiten Spuren im verräterischen Urin hinterlassen. Darauf baute er seine erstaunlichen Diagnosen auf, und die darauffolgenden Heilerfolge machten ihn berühmt. Der Kindler galt als hilfsbereiter und frommer Mensch, doch hatte er eine sehr raue Schale und Sprache. So begrüßte er eine Dame aus der Stadt mit den Worten: „Wo fahlts, du herrischa Goaß?“ und verabschiedete sich mit: „Folgen oder verrecken!“ Trotzdem war der Andrang zu ihm groß, denn man vertraute ihm und seiner Kunst zu heilen. Von weiß Gott woher kamen die Hilfesuchenden, sodass man den Zug, der um 10 Uhr Vormittag ins Zillertal fuhr und zum Großteil mit Kindlerpatienten besetzt war, den „Kindlerzug“ nannte. Alois Neuner, der Kiendler, der Star unter den Bauerndoktoren, verstarb an gebrochenem Herzen am 18. Juli 1934. Er konnte den Tod seiner Ehefrau Maria nicht überwinden.
Viele Geschichten ranken sich um den alten Kiendler, von denen ich eine in einer späteren Ausgabe erzählen werde.
Franz Wechselberger
Ortschronik Mayrhofen